Produktbeschreibung
Das literarische Motiv des Hochstaplers, die Verdeckung des Seins
durch den schönen Schein - dies dient Keller zum Grundstoff
seiner berühmten Erzählung, in der er den Umschlag vom
romantisch-haltlosen Schein zu einer lebensgerechteren Humanität
vorführt.
Leseprobe
An einem unfreundlichen Novembertage wanderte ein armes Schneiderlein
auf der Landstraße nach Goldach, einer kleinen, reichen
Stadt, die nur wenige Stunden von Seldwyla entfernt ist. Der Schneider
trug in seiner Tasche nichts als einen Fingerhut, welchen er,
in Ermangelung irgendeiner Münze, unablässig zwischen
den Fingern drehte, wenn er der Kälte wegen die Hände
in die Hosen steckte, und die Finger schmerzten ihn ordentlich
von diesem Drehen und Reiben. Denn er hatte wegen des Falliments
irgendeines Seldwyler Schneidermeisters seinen Arbeitslohn mit
der Arbeit zugleich verlieren und auswandern müssen. Er hatte
noch nichts gefrühstückt als einige Schneeflocken, die
ihm in den Mund geflogen, und er sah noch weniger ab, wo das geringste
Mittagbrot herwachsen sollte. Das Fechten fiel ihm äußerst
schwer, ja schien ihm gänzlich unmöglich, weil er über
seinem schwarzen Sonntagskleide, welches sein einziges war, einen
weiten, dunkelgrauen Radmantel trug, mit schwarzem Samt ausgeschlagen,
der seinem Träger ein edles und romantisches Aussehen verlieh,
zumal dessen lange, schwarze Haare und Schnurrbärtchen sorgfältig
gepflegt waren und er sich blasser, aber regelmäßiger
Gesichtszüge erfreute.
Solcher Habitus war ihm zum Bedürfnis geworden, ohne daß
er etwas Schlimmes oder Betrügerisches dabei im Schilde führte;
vielmehr war er zufrieden, wenn man ihn nur gewähren und
im Stillen seine Arbeit verrichten ließ; aber lieber wäre
er verhungert, als daß er sich von seinem Radmantel und
von seiner polnischen Pelzmütze getrennt hätte, die
er ebenfalls mit großem Anstand zu tragen wußte.
Autoreninfo
Gottfried Keller (1819 - 1890) gilt als Schweizer Pendant zu Theodor Fontane. Weltberühmt ist vor allem sein Novellenzyklus 'Die Leute aus Seldwyla'.