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Herr Kehlmann - Woher nehmen Sie eigentlich Ihre Ideen?
- von Dagmar S. aus Crailsheim, 04.07.2012 -
Ein Roman in neun (Kurz)-Geschichten - alle erzählt aus unterschiedlichen Perspektiven, mal aus der Ich-Perspektive, mal aus der Erzählperspektive. Durch Mehrfachnennungen von Namen, die in den Kurzgeschichten vorkommen, sind diese miteinander verknüpft. Normalerweise komme ich durcheinander, wenn mehrere Personen aus der Ich-Perspektive erzählen. In diesem Fall aber konnte ich die Personen jeweils gut zuordnen, da es sich um abgeschlossene Geschichten handelte. Man findet "Geschichten in Geschichten in Geschichten". Alle haben auf irgendeine Art und Weise mit Vorstellung und Wirklichkeit, mit Visionen und drohendem Realitätsverlust zu tun, mit Traum und Tatsachen.
Gleich die erste Kurzgeschichte hat mich angesprochen: Ebling legt sich ein Handy zu. Er scheint die gleiche Nummer wie ein anderer zu haben, denn ständig bekommt er Anrufe von Leuten, die er nicht kennt. Laut Telekommunikationsunternehmen kann das gar nicht sein. Erst ignoriert er die Anrufe, doch später macht es ihm Spaß, sich als "Ralf" auszugeben. Dadurch richtet er Schaden an, den er selbst gar nicht überblicken kann und er kommt der Seele einer aufregenden Frau näher, als er je zu wünschen gehofft hat ...
Wer ist dieser Ralf? Mit dieser Frage geht man in die nächste Geschichte, doch diese handelt (zunächst) von etwas ganz anderem. Der sperrige Schriftsteller Leo Richter hat Flugangst. Mit Elisabeth, einer Ärztin von Médecins sans frontière, ist er unterwegs zu einer Vortragsreihe durch Lateinamerika. Hier taucht zum ersten Mal Lara Gaspard auf - eine Romanfigur von Leo Richter, die später auch noch in einer Kurzgeschichte vorkommen soll. Bereits hier vermischen sich Realität und Illusion ... Die zweite Geschichte ist amüsant zu lesen auf Grund der Paranoia von Leo Richter und dessen rigorosem Umgang mit übereifrigen Bewunderern.
Die befremdlichste aller Geschichten war für mich die dritte "Rosalie geht sterben". Hier vermischen sich Realität und Illusion noch stärker, denn Rosalie ist eine (weitere) Figur von Leo Richter, nämlich die Tante von Lara Gaspard. In der Geschichte selbst führt Rosalie ein Streitgespräch mit ihrem Schöpfer Leo Richter, ob sie denn nun sterben solle oder nicht, denn eigentlich hat die 70jährige Rosalie dazu noch gar keine Lust ... Weil es Leo Richter aber anders mit ihr vorhat, muss sie in die Schweiz reisen ... "Was ist das nur mit den Schweizern, denkt sie, die können doch sonst alles, wieso kriegen sie es nicht hin, normal zu sprechen?"
In der vierten Geschichte geht es nun endlich um Ralf Tanner, einen berühmten Schauspieler. Auch diese Geschichte handelt von Identitätsverlust und der Verschiebung von Realitäten. Jemand anderer - ein Imitator gibt sich als Tanner aus. Tanner findet nicht in sein altes Leben zurück, doch so unrecht ist ihm das gar nicht, er hat es satt, berühmt zu sein ...
Immer wieder taucht ein seltsamer Taxifahrer in den Geschichten auf. Dieser Taxifahrer stiehlt Autos und weiß schon im Voraus, wohin die Leute wollen. Auch ein erfolgreicher Selbsthilfebuchschreiber - Miguel Auristos Blankos - wird mehrfach genannt ... "und sollte die Atombombe fallen, dann werde eins mit der Atombombe". Von ihm handelt die sechste Geschichte.
Eine Geschichte, die mir am meisten unter die Haut ging (real vorstellbarer Horror): eine Schriftstellerkollegin von Leo Richter geht in einem fremden Land verloren. Sie findet sich nicht zurecht, spricht die Landessprache nicht, erfährt keine Hilfe, weiß sich nicht zu helfen, geht einfach unter.
Am krassesten die Geschichte des Internetjunkies Mollwitz in moderner Jugendsprache verfasst. Von der Arbeit aus postet er in verschiedenen Internetforen, wohnt aber noch bei Mama und wäscht sich nicht gerne. Mollwitz, der unter Fremden nicht reden kann und lieber anderen usern Reason beibringt, muss für seinen Chef eine Präsentation bei einer Tagung übernehmen - das kann nur in einer Katastrophe enden - eine schöne Persiflage auf Internetkommunikation und Umgangsformen in Internetforen.
Die beiden letzten Geschichten führen zum Ausgangspunkt zurück und verbinden die noch fehlenden Zusammenhänge. "Alles was man sich vorstellt, ist im Grunde auch wahr". Der Wunsch nach einer Verdoppelung des Lebens, Traum und Wirklichkeit verbinden ...
Mein Fazit: Daniel Kehlmann hat einen amüsanten wie auch intelligenten Roman geschrieben, der aktuelle Themen aufgreift und die Möglichkeiten von Dimensionsverschiebungen unserer heutigen Kommunikationswelt aufzeigt. Sprachlich ist ihm das sehr geglückt. Ich habe diesen Roman schnell gelesen und fühlte mich vom Thema angesprochen, wenn ich auch finde, dass Kehlmann Manches hätte mehr vertiefen können. Ach - und eine Frage noch, Herr Kehlmann: >>Woher nehmen Sie eigentlich Ihre Ideen?<<