Produktbeschreibung
»Rainer Maria Rilke, der auch als Briefschreiber ein Dichter war, schrieb seiner Mutter alljährlich einen Weihnachtsbrief. Das entsprach »einer alten Verabredung zu unserer Sechs-Uhr-Stunde des Vierundzwanzigsten; ich versuche dann jedesmal so zu ihr zu sprechen, wie es für ihr Gemüth tröstlich und theilnehmend sein möchte, und doch auch so, daß mir, über dieser Zusprache, redlich zu Muthe sei. Ja, es war sogar immer mein Versuch und Wunsch, diesen Anlaß, damit er nicht allein wahr, sondern auch feierlich gesteigert erscheine, zu einem Mittel meiner eigenen Erhebung auszugestalten.« (Aus Nanny Wunderly-Volkart, 23.12.1923)Hella Sieber-Rilke gibt mit der Herausgabe dieser Briefe einen ersten Einblick in die umfangreiche Korrespondenz Rilkes mit seiner Mutter.«
Leseprobe
Poststempel: Berlin, 22. Dezember 1900
Meine liebe gute Mama,
wir haben nie viel geredet unter dem Christbaum. So soll es auch
heute sein, zumal das Reden auf dem Papier nicht einmal die Illusion
von Nähe hervorruft. Und die sollst Du haben, d.h. mehr
als die Illusion, - die Sicherheit, daß ich Dir nahe bin
an diesem Abend, den Du mir, seit ich ihn zum ersten Mal erlebte,
geschmückt und durch Beweise Deiner Liebe und Güte reich
gemacht hast! Und Du sollst mich nahe empfinden, weil ich Dir
mein neues Buch schenke und auf diese Weise mit dem Besten, was
ich bis jetzt errungen habe und geworden bin, zu Dir komme, mit
viel mehr als nur mit meinem Körper und Gesicht, mit viel
mehr als meiner Seele: - mit einer Potenz meiner Kraft und Liebe,
mit einem Teil meiner tiefen Frömmigkeit, mit einem Stück
meiner Zukunft. - Das Buch "Vom lieben Gott"... ist
alles das. Nimm es gut auf und laß es das vollbringen am
Heiligen Abend, was ich hier wünsche. Erkenne mich darin,
liebe Mama.
Ich sage nicht mehr, - ich lege nur einfach mein Buch unter den
kleinen Christbaum, oder dort auf das kleine Tischchen, wo die
singenden Engel stehen und wo Du mir im vorigen Jahr die Fülle
Deiner Gaben ausgebreitet hast. Siehst Du, man kann es ruhig aussprechen,
denn ich bin wieder da, wie im Vorjahr, nur nicht gehetzt, nicht
zu...
Autoreninfo
Rainer M. Rilke (1875-1926), der Prager Beamtensohn, wurde nach einer erzwungenen Militärerziehung 1896 Student, zuerst in Prag, dann in München und Berlin, weniger studierend als dichtend. Die kurze Ehe mit der Bildhauerin Clara Westhoff in Worpswede löste er 1902 auf. Er bereiste darauf Italien, Skandinavien und Frankreich. In Paris schloß er Bekanntschaft mit Rodin und wurde dessen Privatsekretär. Bereits nach acht Monaten kam es zum Bruch. Es folgten unstete Jahre des Reisens mit Stationen in verschiedenen Städten Europas. Nach seinem Entschluß zur Berufslosigkeit und zu einem reinen Dichterdasein war Rilke zu jedem Verzicht bereit, wenn es dem Werk galt. Er opferte sein Leben seiner Kunst und gewann Unsterblichkeit, indem er unerreichte Sprach- und Kunstwerke schuf.
Im Ersten Weltkrieg war er zur österreichischen Armee eingezogen, wurde aber aufgrund seiner kränklichen Konstitution in das Wiener Kriegsarchiv versetzt. Rilke starb nach langer Krankheit in Val Mont bei Montreux.