Produktbeschreibung
Aus sieben Heiligenlegenden, die er in der Legendensammlung des lutherischen Theologen Kosegarten findet, macht Keller eine »erotisch-weltliche Historie«, in der »die Jungfrau Maria die Schutzpatronin der Heiratslustigen ist«. Der 1872 erschienene Novellenzyklus schließt mit dem >Tanzlegendchen< ab. Dort ist der Himmel vom munteren Treiben der heidnischen Musen erfüllt, die von der Trinität misstrauisch beäugt werden.
Vorwort
Beim Lesen einer Anzahl Legenden wollte es dem Urheber
vorliegenden Büchleins scheinen, als ob in der überlieferten
Masse dieser Sagen nicht nur die kirchliche Fabulierkunst sich
geltend mache, sondern wohl auch die Spuren einer ehemaligen mehr profanen Erzählungslust oder
Novellistik zu
bemerken seien, wenn man aufmerksam hinblicke.
Wie nun der Maler durch ein fragmentarisches Wolkenbild, eine Gebirgslinie, durch das radierte
Blättchen eines
verschollenen Meisters zur Ausfüllung eines Rahmens gereizt
wird, so verspürte der Verfasser die Lust zu einer Reproduktion jener abgebrochen schwebenden Gebilde,
wobei ihnen
freilich zuweilen das Antlitz nach einer anderen Himmelsgegend hingewendet wurde, als nach welcher sie in der
überkommenen Gestalt schauen.
Der ungeheure Vorrat des Stoffes ließe ein Ausspinnen der
Sache in breitestem Betriebe zu; allein nur bei einer mäßigen
Ausdehnung des harmlosen Spieles dürfte demselben der
bescheidene Raum gerne gegönnt werden, den es in Anspruch nimmt.
Inhaltsverzeichnis
Eugenia - Die Jungfrau und der Teufel - Die Jungfrau als Ritter - Die Jungfrau
und die Nonne - Der schlimm-heilige Vitalis - Dorotheas Blumenkörbchen - Das
Tanzlegendchen
Leseprobe
Eugenia
Ein Weib soll nicht Mannsgeräthe tragen, und ein
Mann soll nicht Weiberkleider anthun; denn wer
solches thut, ist dem Herrn, deinem Gott, ein
Gräuel.
5. Mos. 22. 5.
Wenn die Frauen den Ehrgeiz der Schönheit, Anmut und
Weiblickeit hintansetzen, um sich in andern Dingen hervorzutun, so endet die Sache oftmals damit, daß sie sich in Männerkleider werfen und so dahintrollen.
Die Sucht, den Mann zu spielen, kommt sogar schon in der
frommen Legendenwelt der ersten Christenzeit zum Vorschein, und mehr als eine Heilige jener Tage war von dem
Verlangen getrieben, sich vom Herkommen des Hauses und
der Gesellschaft zu befreien.
Ein solches Beispiel gab auch das feine Römermädchen
Eugenia, freilich mit dem nicht ungewöhnlichen Endresultat,
daß sie, in große Verlegenheit geraten durch ihre männlichen
Liebhabereien, schließlich doch die Hülfsquellen ihres natürlichen Geschlechtes anrufen mußte, um sich zu retten.
Sie war die Tochter eines angesehenen Römers, der mit
seiner Familie in Alexandria lebte, wo es von Philosophen
und Gelehrten aller Art wimmelte. Demgemäß wurde Eugenia sehr sorgfältig erzogen und unterrichtet, und dies schlug
ihr so wohl an, daß sie, sobald sie nur ein wenig in die Höhe
schoß, alle Schulen der Philosophen, Scholiasten und Rhetoren besuchte, wie ein Student, wobei sie stets eine Leibwache
von zwei niedlichen Knaben ihres Alters bei sich hatte. Dies
waren die Söhne von zwei Freigelassenen ihres Vaters, welche
zur Gesellschaft mit ihr erzogen waren und an all ihren Studien teilnehmen mußten.
Mittlerweile wurde sie das schönste Mädchen, das zu finden
war, und ihre Jugendgenossen, welche seltsamer Weise beide
Hyazinthus hießen, erwuchsen desgleichen zu zwei zierlichen
Jünglingsblumen, und wo die liebliche Rose Eugenia...
Autoreninfo
Gottfried Keller (1819 - 1890) gilt als Schweizer Pendant zu Theodor Fontane. Weltberühmt ist vor allem sein Novellenzyklus 'Die Leute aus Seldwyla'.