Produktbeschreibung
Diese köstliche und tiefsinnige Geschichte von einem armen Schneider, der aufgrund seines gepflegten Äusseren für einen Grafen gehalten wird, ist eine der bekanntesten Novellen Kellers. Die ganze Stadt überbietet sich darin, dem vermeintlichen Grafen, der seine Rolle, aus der er sich eigentlich heraussehnt, immer besser beherrscht, die Aufwartung zu machen. Als er sich jedoch mit Nettchen, der Tochter des Amtsrates, verlobt hat, ist es für ihn unmöglich, aus der Rolle auszubrechen. Gegen den Widerstand ihres Vaters bleibt seine Verlobte ihm treu, auch als er schliesslich entlarvt wird. In Goldach bringt es der arme Schneider schliesslich zu verdientem Wohlstand. Diese Novelle Kellers hat eine Reihe berühmter Verfilmungen erfahren. Neben der Einleitung zu "Die Leute von Seldwyla" bringt das Heft ausführliche Anmerkungen, die dem Verständnis der Erzählung dienen.
Leseprobe
An einem unfreundlichen Novembertage wanderte ein armes Schneiderlein
auf der Landstraße nach Goldach, einer kleinen reichen Stadt,
die nur wenige Stunden von Seldwyla entfernt ist. Der Schneider
trug in seiner Tasche nichts als einen Fingerhut, welchen er,
in Ermangelung irgendeiner Münze, unablässig zwischen
den Fingern drehte, wenn er der Kälte wegen die Hände
in die Hosen steckte, und die Finger schmerzten ihn ordentlich
von diesein Drehen und Reiben. Denn er hatte wegen des Falliments
irgendeines Seldwyler Schneidermeisters seinen Arbeitslohn mit
der Arbeit zugleich verlieren und auswandern müssen. Er hatte
noch nichts gefrühstückt als einige Schneeflocken, die
ihm in den Mund geflogen, und er sah noch weniger ab, wo das geringste
Mittagbrot herwachsen sollte. Das Fechten fiel ihm äußerst
schwer, ja schien ihm gänzlich unmöglich, weil er über
seinem schwarzen Sonntagskleide, welches sein einziges war, einen
weiten dunkelgrauen Radmantel trug, mit schwarzem Samt ausgeschlagen,
der seinem Träger ein edles und romantisches Aussehen verlieh,
zumal dessen lange schwarze Haare und Schnurrbärtchen sorgfältig
gepflegt waren und er sich blasser, aber regelmäßigen
Gesichtszüge erfreute.
Solcher Habitus war ihm zum Bedürfnis geworden, ohne daß
er etwas Schlimmes oder Betrügerisches dabei im Schilde führte;
vielmehr war er zufrieden, wenn man ihn nur gewähren und
im stillen seine Arbeit verrichten ließ; aber lieber wäre
er verhungert, als daß er sich von seinem Radmantel und
von seiner polnischen Pelzmütze getrennt hätte, die
er ebenfalls mit großem Anstand zu tragen wußte.
Er konnte deshalb nur in größeren Städten arbeiten,
wo solches nicht zu sehr auffiel; wenn er wanderte und keine Ersparnisse
mitführte, geriet er in die größte Not. Näherte
er sich einem Hause, so betrachteten ihn die Leute mit Verwunderung
und Neugierde und erwarteten eher alles andere, als daß
er betteln würde; so erstarben ihm, da er überdies nicht
beredt war, die Worte im Munde, also daß er der Märtyrer
seines Mantels war und Hunger litt, so schwarz wie des letztern
Sammetfutter.
Als er bekümmert und geschwächt eine Anhöhe hinauf
ging, stieß er auf einen neuen und bequemen Reisewagen,
welchen ein herrschaftlicher Kutscher in Basel abgeholt hatte
und seinem Herren überbrachte, einem fremden Grafen, der
irgendwo in der Ostschweiz auf einem gemieteten oder angekauften
alten Schlosse saß. Der Wagen war mit allerlei Vorrichtungen
zur Aufnahme des Gepäckes versehen und schien deswegen schwer
bepackt zu sein, obgleich alles leer war. ...
Autoreninfo
Gottfried Keller (1819 - 1890) gilt als Schweizer Pendant zu Theodor Fontane. Weltberühmt ist vor allem sein Novellenzyklus 'Die Leute aus Seldwyla'.